Vom Petticoat zu James Dean (Claudia Plachetka)

Ich schaue in den Spiegel und fühle mich wohl. Selten tue ich das, doch wenn ich dieses Spiegelbild sehe, gefalle ich mir. Die Hose sitzt perfekt, das Hemd ist leider ein wenig zu groß, was aber weiter nicht schlimm ist. Die Lederjacke lässt meine Schultern größer aussehen und meine kurzen, braunen Haare habe ich perfekt gestylt. Nun sitzen sie fast genauso wie bei meinem Vorbild James Dean. Noch sind sie ein wenig kurz, aber in zwei Wochen haben sie die perfekte Länge.
      „Andrea, das Essen ist fertig!“, schreit meine Mutter nach oben. Ich erschrecke mich und werfe die Lederjacke sofort auf mein Bett. Schnell ziehe ich mir die Hose und das Hemd aus. Auch diese landen auf meinem Bett. Ich überdecke den Kleiderhaufen mit der Bettdecke. Als ich mich im Spiegel sehe kommen mir wieder Tränen in die Augen. Nur bekleidet in Unterwäsche kann ich mich einfach nicht im Spiegel betrachten. Die Kurven, die schmale Schulter, einfach nichts passt. Ich ziehe mir mein Kleid über und setze meine Perücke auf. Ich habe mir diese vor zwei Wochen gekauft, als ich mir die Haare abschnitt. Hätte Mutter erfahren, dass meine Haare ab sind, hätte sie mich mit Sicherheit umgebracht. Mit Neid erblickt sie immer meine Haare, weil ihre sich schon grau färben. Es gab kein Sonntagsessen ohne dieses Thema am Tisch. Zum Schluss trage ich noch Lippenstift auf, als ich höre wie Mutter die Treppen hinauf läuft. Als sie rein kommt schmeiße ich mich förmlich aufs Bett und öffne das Buch, das da liegt.
      „Andrea! So vertieft in ein Buch wie du ist kein Mensch auf dieser Welt! Komm essen, dein Vater hat Hunger!“, meint sie mit ihrer üblichen grimmigen Miene, als sie in mein Zimmer kommt.
      Sie merkt nicht, dass ich das Buch falsch herum lese, aber das ist typisch. Sie würde sich nicht mal für mich interessieren wenn ich in diesem Zimmer einen Handstand machen würde. So ist sie eben. Für sie zählt nur sie selbst.
      Also stehe ich auf, schließe die Tür und gehe nach unten. Vater hat schon angefangen zu Essen. Ich setze mich an den Tisch und fange ebenfalls an zu Essen. Wieder einmal kommen die üblichen Themen auf den Tisch. Wie sehr sich die Jugend verändert. Wie immer meint meine Mutter, dass man alle Jugendlichen mit ihren unausstehlichen Tänzen einsperren müsse. Ich höre nur zu und antworte nur, wenn man es von mir verlangt. Genauso wie es mein Vater tut. Immer Lächeln und Nicken, das macht Mutter glücklich.
      „Hast du gesehen, was die Jugendlichen nun tragen? Hosen! Die Frauen tragen Hosen, eine Frechheit oder?! Mit den flachen Schuhen konnte ich mich noch einigermaßen anfreunden, aber Hosen?! Also bitte! Das ist vollkommen inakzeptabel.“
      Sie nimmt ein Stück von ihrem Fisch und tupft sich ihren perfekt geschminkten Mund ab.
      „Ist doch gemütlich, warum sollten sie es also nicht tun?“, erwidert Vater auf ihre rhetorischen Fragen. Er ist glaube ich der einzige Mensch in der Welt, der Mutter überhaupt erst versucht die Stirn zu bieten.
      „Also Wolfgang untersteh dich! Eine Frau soll gut aussehen und nicht wie der letzte Trampel rum laufen! Also bitte Andrea, mach diesen furchtbaren Trend nicht nach!“
      Ich sehe Mutter an und nicke nur zustimmend.
      Vater sieht mich von der Seite an und grinst leicht. Wie gesagt, er versucht ihr die Stirn zu bieten, aber leicht ist es definitiv nicht. Als wir zur Nachspeise gelangen und zum hundertsten Mal eins dieser furchtbaren Klassiker aufgelegt wird, sage ich zu meiner Mutter:
      „Heute Abend dauert der Kirchenkreis etwas länger und anschließend wollten wir noch ins Jazzy gehen.“
      Mutter beäugt mich misstrauisch.
      „Mit wem?“, will sie wissen.
      „Mit Monika und Renata.“
      Mutter neigt ihren Kopf kurz zur Seite und nickt dann.
      „Aber sei bitte spätestens um elf Uhr wieder Zuhause.“
      Ich nicke und bleibe noch sitzen, bis beide mit Essen fertig sind. Wenn sie nur wüssten, was der Kirchenkreis wohl wirklich ist. Mutter würde dann an einem Herzinfarkt sterben.

Nach dem Essen packe ich meine Tasche und gehe wieder nach unten.
      „Tschüss!“, rufe ich schnell und renne aus der Haustür raus. Das Auto steht schon bereit, Franklin hält mir die Tür auf. Ich hoffe die hören irgendwann damit auf, einen Chauffeur zu haben und fahren selbst Auto. Das ist nicht nur altmodisch, nein es ist auch noch total protzig.
      „Franklin?“, Franklin sieht mich im Rückspiegel an.
      „Fahren Sie auf dem Weg noch bei Harald vorbei, er kommt heute mit zum Kirchenkreis.“
      Franklin nickt und konzentriert sich wieder auf die Straße.
      Als wir bei Harald vorbei fahren, freue ich mich wie ein kleines Kind. Er ist mein bester Freund und er ist auch der einzige, der mein wahres Ich kennt.
      „Hey Franklin!“, begrüßt er lässig den Fahrer.
      Franklin rollt nur mit den Augen und ich muss Lächeln.
      Harald lässt sich neben mich nieder und wie immer ist mein Blick auf ihn geheftet. Ich wünschte ich würde auch so aussehen wie er. Aber in ein paar Minuten werde ich so aussehen wie er. Zumindest ansatzweise. Im Auto unterhalten wir uns über alle Neuigkeiten, denn er geht auf eine staatliche Schule. Er bekommt alle neuen Trends und sonstiges mit, während ich auf einer altmodischen Privatschule hocke, auf der sogar schon meine Mutter war. Das Schlimmste an allem ist, dass diese Schule für katholische Mädchen ist. Der absolute Horror.
      An der Kirche angekommen, hält Franklin mir die Tür auf während Harald einfach aussteigt und Franklin schelmisch anlächelt.
      Ich gehe auf Franklin zu, der mich leicht anlächelt. Ich habe ihm schon immer gefallen, auch wenn er zwanzig Jahre älter ist als ich. Gut Aussehen tut er immerhin. Ganz unauffällig stecke ich ihm einen Fünfziger in seine Jackett Tasche.
      „Als Dankeschön für Ihre Diskretion!“ Ich grinse ihn verführerisch an und er wird leicht rötlich im Gesicht.
      „Sie müssen mir nicht danken, Frau Andrea.“
      Lächelnd steigt er ins Auto, wobei er mir das Geld nicht wiedergibt. Besser soll er es haben, als meine stinkreichen und nervigen Eltern.
      Wir laufen nebeneinander in die Kirche und als die Tür zu fällt lächelt Harald mich an.
      „Ich finde es einfach nur witzig dich so zu sehen!“
      Er versucht leise zu lachen, doch das geht daneben.
      „Halt deinen Mund!“, flüstere ich ihm wütend zu und schlage ihm in den Bauch.
      Er krümmt sich kurz zusammen, allerdings lacht er kurze Zeit später wieder.
      Lächelnd laufe ich auf die Toilette zu, sehe mich noch einmal um, ob jemand in der Kirche ist und verschwinde dann auf der Toilette. Schnell ziehe ich mir meine Perücke ab, wechsele die Klamotten. Vor dem Spiegel wasche ich mir die Schminke ab und style meine Haare mit ein wenig Gel. So fühle ich mich wohl. So kann ich mich im Spiegel betrachten. Meine Kurven verschwinden unter dem großen Hemd. Mein Gesicht wirkt durch die Frisur markanter und ich fühle mich kräftiger. Ich packe wieder alles in einen Beutel und gehe raus. Den Beutel lege ich wie jedes Mal in das Taufbecken, denn dort schaut niemand nach. Dann gehe ich auf Harald zu.
      „So ist es schon besser. Auch wenn mir deine Brüste fehlen.“
      Ich boxe ihn wieder in die Seite, doch er lacht weiter. Ich bin froh, dass er Witze darüber machen kann, denn das bedeutet mir sehr viel. Auch wenn er keine Frau ist, sondern ein Mann habe ich das Gefühl, dass er mich halbwegs verstehen kann. Wenn ich so angezogen bin, kann ich sein wer ich wirklich bin.

Wir gehen aus der Kirche raus und machen uns auf den Weg. Gemeinsam fahren wir mit dem Bus bis zum Rocky. Das Rocky ist unser Lieblingslokal. Erstens weil man dort nicht kontrolliert wird uns zweitens, weil dort durchgehend Rock and Roll gespielt wird. Würde das nur eins meiner Elternteile wissen, dass ich im Rocky zu Rock and Roll tanze und dann auch noch mit Mädchen, sie würden hier und jetzt umfallen. Doch sie wissen es nicht und das ist auch gut so.
      Beim Rocky angekommen ertönt draußen schon die laute Musik. Zu hören ist Elvis Presley.
      Wir setzen uns an unseren Stammplatz, warten bis sich der Laden füllt und trinken auf meine Kosten ein Bier nach dem anderen. Wir beide warten nur auf die perfekte Gelegenheit, Frauen kennen zu lernen. Sie tragen kurze Röcke, ihre Haare sind auf toupiert und teilweise rot gefärbt. Immer schneller füllt sich die Tanzfläche. Doch als eine bestimmte Gruppe von Mädchen herein kommt, können wir beide nicht anders, als sie anzustarren. Sie gehören zu hundert Prozent nicht zu unserem Umfeld. Alle tragen ihre Haare hochgesteckt, längere Kleider und Handschuhe aus Spitze. Vier von den Fünf Mädchen sehen sich angewidert um, während alle Männer sie nur anstarren. Während das Mädchen mit blonden Haaren ganz vorne sich erstaunt umblickt. Selbstbewusst geht sie zum Tisch neben uns. Die anderen Mädchen folgen ihr wie Enten und verhalten sich schüchtern. Sie setzen sich kerzengerade an den Tisch und versuchen erst gar nicht den dreckigen Tisch anzufassen.
      Als der Kellner kommt und die Bestellung aufnehmen will, möchte eine von ihnen Champagner bestellen. Der Kellner lacht sie nur aus, woraufhin sie kurz davor ist in Tränen auszubrechen.
      Harald und ich beobachten das Ganze und versuchen nicht in Gelächter aus zu brechen.
      „Wir nehmen alle ein Bier.“, sagt das Mädchen mit den blonden Haaren und rettet somit die Situation.
      Ich weiß nicht woher, aber irgendwie kenne ich sie. Wir können nicht anders, als die Mädchen zu beobachten. Noch nicht mal, weil sie besonders hübsch sind, sondern einfach weil sie sich so verhalten wie meine Mutter. Was wollen solche Mädchen hier? Plötzlich verschwindet das blondhaarige Mädchen auf der Toilette und lässt die armen Damen hier alleine. Harald bestellt gerade neues Bier für uns. Meine Gedanken kreisen immer wieder um das Mädchen mit den blonden Haaren. Als sie plötzlich wieder kommt, trägt sie ein kurzes Kleid, ihre langen Haare sind offen und die Handschuhe sind weg. Ich kann nicht anders als sie anzustarren, auch als sie meinen Blick erwidert. Ihre Mädels schauen sie genauso begeistert und entsetzt an wie ich. Ich versuche mich zusammen zu reißen und sie nicht anzustarren, doch es fällt mir einfach zu schwer. Dass Harald wieder kommt und mir das Bier vor die Nase stellt bekomme ich gar nicht mit.
      „Hey Mann, alles klar?“, fragt er mich.
      Ich tauche aus meiner Gedankenwelt wieder auf und sehe ihn an. Er allerdings grinst nur.
      „Ja und bei dir?“, antworte ich genervt. Seine Gegrinse ist manchmal echt anstrengend. Ich nehme mir das Bier und trinke einen Schluck, dabei sehe ich Harald immer noch genervt und wütend an.
       „Anstatt so genervt zu sein, könntest du mich auch endlich fragen ob ich tanzen will?“, ertönt plötzlich eine weibliche Stimme neben mir.
      Es ist das blonde Mädchen, welches mich auffordernd ansieht. Ich verschlucke mich fast an dem Bier und muss erstmal husten, woraufhin sie nur lächelt.
      „Wenn du das unbedingt willst.“, meine ich achselzuckend, stehe auf und reiße sie einmal auf die Tanzfläche. Im Augenwinkel erkenne ich noch wie Harald mir zuzwinkert, während ich in der Menge verschwinde. Ich bewege mich schnell zu dem Takt der Musik, schwinge sie hin und her und hole sie wieder an mich ran. Ich weiß, dass ich gut tanzen kann, aber sie tanzt auch verdammt gut. Woher auch immer sie das kann. Ihr kurzer Rock schwingt bei jeder Drehung hin und her und ich kann einen kurzen Blick auf ihre langen Beine erhaschen. Mir wird warm, als sie mir am Ende des Liedes immer näher kommt.
      Dann ist das Lied zu Ende, die Menge klatscht und wir beide sehen uns nur an. Ihre Augen leuchten unfassbar grün.
      „Dafür, dass ich dich hier noch nie gesehen habe, finde ich du tanzt es echt gut.“, sage ich zu ihr und entferne mich wieder einen Schritt von ihr. Die Hitze ist einfach zu unerträglich.
      „Vielen Dank!“, antwortet sie mit einem Lächeln.
      Ich lächle zurück und lade sie und ihre Freundinnen zu unserem Tisch ein.
      Sofort läuft sie zu ihren Damen und sie setzen sich an unseren Tisch. Ich bemerke, dass Harald sich anscheinend sehr für die Dame mit den roten Haaren interessiert. Sie allerdings ignoriert ihn, was ich wiederum ziemlich witzig finde. Denn für gewöhnlich ist er derjenige, der bei Frauen ziemlich gut ankommt.
      „Also ihr seht noch so jung aus, von welcher Schule kommt ihr?“, fragt Harald und das Mädchen mit den roten Haaren sieht ihn empört an. Das Mädchen mit den blonden Haaren, die neben mir sitzt lacht nur.
      „Wir sind von der katholischen Mädchen Privatschule.“
      Mein Herz bleibt einmal stehen. Ich sehe Harald an, der schon zu viel Bier getrunken hat, um mit zubekommen, was hier gerade passiert. Ich hätte es eigentlich schon wissen müssen, als sie hier herein kamen. Sie sehen alle aus wie meine Mutter, dann können sie ja nur von meiner Schule kommen! Abgesehen von dem blonden Mädchen natürlich.
      „Und wer seid ihr?“, fragt sie und sieht mich dabei an.
      Ich kann allerdings nicht antworten, also springt Harald schnell ein.
      „Wir kommen von der Alfred-Wagner Schule. Ich bin übrigens Harald und das ist mein Freund Andreas.“
      Harald beugt sich einmal quer über den Tisch und reicht allen die Hand. Nun sammelt er doch noch Plus Punkte mit seiner übertriebenen Höflichkeit, auf die alle Frauen aus diesem Kreise stehen.
      „Ist das nicht diese Schule, an der Frauen Hosen tragen?“, fragt ein Mädchen aus der Runde, die eine ziemlich hohe und schrullige Stimme hat.
      „Ja genau, wir sind die Schule, die die Trends entwickelt.“
      Harald sieht das Mädchen an und grinst breit. Sie weiß daraufhin nicht, was sie sagen soll, also fängt sie an zu schmollen. Jetzt muss auch ich grinsen. Alle diese Mädchen werden mal genauso furchtbar nervige Frauen wie meine Mutter.
      „Ich bin Karin.“, stellt sich das Mädchen anschließend mit den blonden Haaren vor und reicht nur mir ihre Hand.
      „Und ich will tanzen!“, als sie meine Hand nimmt, reißt sie mich hoch und schon stehen wir wieder auf der Tanzfläche.
      Ich bin erstaunt wie selbstbewusst sie ist. Solche Frauen gibt es sehr selten und noch seltener an der Privatschule. Sie umfasst meinen Nacken und ich ihre Schmale Taille. Je länger das Lied läuft, umso näher kommen wir uns. Ich schlucke immer wieder vor Nervosität, denn so nah kam ich einer Frau noch nie. Auch dieses Mal habe ich Angst, dass sie mein wahres Ich sieht. Als der Song rum ist, zieht sie mich in den hinteren Bereich der Bar, wo sie sich eine Zigarette anzündet. Sie bietet mir auch eine an und ich nehme sie, zwar mit Verwirrung an. Mit geübten Fingern zünde ich sie an.
      „Weißt du was?“, fragt sie nachdem sie einmal gezogen hat. Ich schüttele den Kopf.
      „Diese Mädchen sind so furchtbar anstrengend. Die ganze Schule ist anstrengend. Als würden wir in den 20er leben.“
      Sie zieht wieder an ihrer Zigarette.
      „Wieso hast du sie dann hierher mitgenommen?“, will ich wissen.
      Sie lächelt. „Ich hatte gedacht, vielleicht würde es ihnen gefallen. Ich dachte vielleicht kann ich sie ändern. Aber sie lassen sich ja auf gar nichts neues ein.“, erzählt Karin genervt.
      „Ganz tief in ihrem Innern finden sie es vielleicht nicht so schlimm.“, muntere ich sie auf.
      Sie sieht einmal an mir vorbei zu unserem Tisch. Ich sehe auch dorthin und man sieht nur gelangweilte Frauen an einem Tisch und einen Harald, der ein Bier nach dem anderen trinkt.
      „Ich glaube nicht.“, meint Karin und lacht.
      Ich muss über das Bild ebenfalls lachen.
      Sie drückt ihre Zigarette in einem Aschenbecher aus und kommt auf mich zu.
      „Ich glaube du denkst so wie ich.“, flüstert sie und ich muss mich anstrengen sie zu verstehen. Mich überkommt ungewollt eine Gänsehaut. Sie lächelt mich kurz an, geht einen Schritt zurück und geht auf die Tanzfläche zu. Doch ich nehme all meinen Mut zusammen und versuche der Mann zu sein, der ich nach außen hin bin. Denn ich habe irgendwie das Gefühl, dass Karin mehr Mann ist als ich.
      „Warte!“, rufe ich. Sie dreht sich um, kommt wieder zu mir und als sie wieder vor mir steht, sieht sie mich ein wenig verwirrt an, lächelt dann allerdings.
      „Normalerweise fragt man, ob man sich treffen will. Dann wird man den Eltern vorgestellt. Dann heiratet man. Das passiert alles so schnell, dass man den anderen gar nicht kennen lernen kann.“, stammele ich und merke noch während ich rede, was für ein Schwachsinn ich da rede. Ich hole einmal tief Luft und sehe in Karins verwirrten und belustigten grünen Augen.
      „Was ich damit sagen will, ich will mich unbedingt mit dir treffen und das öfter mal.“ Verlegen sehe ich sie an.
      Sie zuckt mit den Schultern und lächelt.
      „Na gut, dann treffen wir uns doch einfach jetzt.“, schlägt sie vor und lächelt wieder mit ihren wunderschönen Lippen.
      Verwirrt sehe ich sie an.
      „Komm mit.“, verlangt sie und ich folge ihr. Wenigstens zieht sie diesmal nicht an meiner Hand, wodurch ich mich nicht gleich wieder fühle wie eine Frau. Durch eine Hintertür gelangen wir nach draußen und ich habe gar nicht die Zeit darüber nachzudenken, woher sie die Hintertür überhaupt kennt.
      Wir beide sehen gleichzeitig nach oben. Ein atemberaubender Mond ist zu sehen. Wir beide kommen aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Ich ergreife wie automatisch ihre Hand. Bei der Berührung zuckt sie leicht zusammen, lässt es allerdings geschehen. Ich rücke näher zu ihr und sie sieht mich an.
      „Unsere Generation sollte Gefühle leben, damit wir nicht so gefühllos werden wie unsere Eltern.“, flüstere ich und streiche gleichzeitig eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.
      Unser beider Atmung geht schneller. Ich gehe einen weiteren Schritt auf sie zu und ziehe ihr Gesicht sanft in die Richtung meines. Als sich unsere Lippen berühren bricht etwas in mir aus, etwas was ich nicht kenne. Ich fühle mich frei. Ich fühle mich wie ein Mann. Ich presse meinen Körper immer näher an ihren, ich kann es gar nicht aufhalten, selbst wenn ich es wollte. Sie umfasst meinen Nacken und unsere Beine verschlingen sich miteinander. Ich bekomme kaum Luft, also nehme ich meine Lippen von ihren, nur um sie an die Wand des Gebäudes zu drängen. Ich drücke ihre Arme nach oben und küsse sie wieder. Ich beginne leicht an ihrer Unterlippe zu kauen und ihr entfährt ein leises Stöhnen, was mich nur noch mehr antreibt. Ich beginne ihren Hals zu küssen und wandere mit meiner Zunge immer weiter hinunter. An ihrem Schlüsselbein höre ich auf und sehe in ihre leuchtenden Augen. Sie strahlen nun noch mehr und sehen mich durchdringend an.
      „Soll ich weiter machen?“, raune ich, während ich ihre Arme loslasse. Ich selbst habe meine Stimme noch nie so tief gehört. Kurz scheint sie verunsichert, was auch mich verunsichert, doch dann presst sie ihre Lippen auf meine und schlingt ihre Beine um meine Hüfte. Ich drücke sie wieder gegen die Wand und halte sie an ihren nackten Oberschenkeln fest.
      „Andreas!“, schreit plötzlich jemand und wie aus Reflex, lasse ich sie sanft aber schnell los und richte ihr Kleid. Ich habe schließlich Übung darin ein Kleid gerade zu streichen. Dann lächle ich sie an, als Harald aus dem Schatten in das Licht des Mondes tritt.
      „Wir haben schon halb zwölf verdammt! Wir müssen los!“
      Mein Herz sackt einmal in meine Hose. Ich sehe Karin an, die noch vollkommen durch den Wind ist. Ich habe so etwas noch nie gemacht und sie auch nicht. Normalerweise küsst man sich erst nach dem vierten Treffen oder so.
      „Jetzt komm, ich habe die Getränke schon bezahlt!!!“, brüllt Harald und verschwindet wieder in der Bar.
      Ich sehe noch einmal Karin an und lächle.
      „Auf Wiedersehen!“, verabschiede ich mich und küsse sie noch kurz auf den Mund. Dann laufe ich zur Tür, doch kurz bevor ich wieder in die Bar gehe, sehe ich sie an. Ihre blonden Haare glänzen im Mondlicht. Ich kann nicht anders als zu Lächeln. So glücklich war ich vermutlich noch nie. In meinem Bauch flattert alles und ich bin leicht verwirrt. Ich renne einmal durch die Bar, verabschiede mich von den übrigen Damen und gehe nach draußen. Dort hole ich ebenfalls nochmal tief Luft, um das gerade geschehene zu verdauen.
      „Andreas!“, ruft Karin, die mir gefolgt ist. Ich drehe mich um und sie läuft schnell auf mich zu.
      „Ich wollte dir nur sagen, dass du nicht alleine bist.“, meint sie zaghaft und ich verstehe nicht so wirklich was sie meint. Dann schaut sie sich einmal nach rechts und nach links um. Ich merke ihr ihre Nervosität an und auch ich werde langsam nervös.
      „Was ich jetzt tue bleibt unter uns. Alles was bereits passiert ist muss unter uns bleiben.“, warnt sie mich leise, als hätte sie Angst dass jemand sie hören kann. Sie holt einmal tief Luft und ich weiß immer noch nicht was sie vorhat. Dann fasst sie sich einmal an den Haaransatz und streicht sich ihre Haare runter. Darunter eine kurze Haarfrisur. Und auf einmal wird mir alles klar. Wir beide sind zwei verlorene Seelen, die in einem anderen Körper stecken möchte. Als wäre es Schicksal gewesen. Als wäre ihr Körper eigentlich für meine Seele bestimmt und mein Körper für ihre.
      „Meine Eltern sind die einzigen die davon wissen. Ich kenne dich aus der Schule und du verhältst dich genauso wie ich mich früher verhalten habe. Doch gemeinsam mit meinen Eltern sind wir in die USA geflogen, wo solche Geschlechtswandeloperationen durchgeführt werden. Es war schmerzhaft und ein zwei Jahre langer Prozess. Damit möchte ich dir nur sagen, dass es auch für Frauen irgendwann möglich sein wird, sich zu ändern und zu dem zu werden, wer man wirklich ist. Du musst nur der Welt zeigen wer du wirklich bist und zu dir stehen. Das schafft man aber nur, wenn man Menschen kennt, die genau dasselbe durchmachen. Sie können sich gemeinsam unterstützen und etwas Neues schaffen. So wie ich.“
      In Gedanken versunken lächelt sie mich an und ihr fließt eine Träne die Wange hinab. Ich kann nicht anders, als auf sie zu zugehen und sie in meinen Arm nehmen. Ein Gefühl von völliger Fassungslosigkeit und Freude stellt sich ein. In meinem Bauch kribbelt es noch mehr.
      „Danke.“, ist das Einzige was ich noch heraus bekomme. Ich drücke sie so fest ich kann an mich. Als wir uns wieder aus der Umarmung lösen lächelt sie mich wieder an.
      „Du bist die schönste Frau die ich kenne.“, sage ich ehrlich zu ihr und selbst in der Dunkelheit kann ich sehen, wie sie rot anläuft. Sie kommt wieder auf mich zu und flüstert mir ins Ohr:
      „Und du bist der schönste Mann den ich kenne.“
      Sie sieht mir tief in die Augen und wieder durchläuft mich ein Schauder. Ich fühle mich nun noch mehr zu ihr hingezogen, obwohl sie eigentlich ein Mann ist. Doch gerade ich weiß, dass sie eine Frau ist, so wie sie weiß, dass ich ein Mann bin. Mich überkommt eine Motivation, eine Hoffnung, die ich noch nie hatte. Mein Kopf ist voll mit neuen Gedanken, mit neuen Überlegungen und ich kann nicht anders, als sie laut auszusprechen.
      „Gemeinsam und mit dem Geld unserer Eltern werden wir die Welt verändern. Wir werden dafür sorgen, dass jeder so sein kann, wie er will.“, schlage ich ihr vor und ein breites Lächeln tritt auf ihr Gesicht.       Sie nickt und beugt sie zu mir um mich wieder zu küssen. Ich ziehe sie zu mir und als unsere Lippen sich berühren, fühlt es sich an wie ein Neuanfang. Wie der Anfang einer neuen Welt.

Autorin: Claudia Plachetka

Biographie

Bibliographie:

ohne Anspruch auf Vollständigkeit

Disclaimer
Die Charaktere dieser Geschichte, sowie alle Handlungen sind geistiges Eigentum des Autors. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten oder Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Der Autor verfolgt kein kommerzielles Interesse an der Veröffentlichung dieser Geschichte.
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